Das „Rad des Lebens“ ist eines der bekanntesten Coachingtools: ein Diagramm, das das Leben in verschiedene Bereiche wie Gesundheit, Beziehungen, Karriere oder Freizeit aufteilt. Die Idee: Indem man jedem Bereich eine subjektive Bewertung gibt, wird sichtbar, welche „Speichen“ schwächeln und warum das Leben sich möglicherweise „holprig“ anfühlt.
Heraus kommt eine visuelle Momentaufnahme des eigenen Lebens, die zeigen soll, welche „Speichen“ stark sind und wo Nachholbedarf besteht. Doch so klar und überzeugend dieses Bild auch wirken mag, bei genauerem Hinsehen entpuppt sich das „Rad des Lebens“ oft als wenig hilfreiches Werkzeug.
Warum? Weil es die Komplexität unseres Lebens stark vereinfacht und dabei Erwartungen schürt, die kaum zu erfüllen sind.
Die guten Seiten des „Rads des Lebens“
Einer der Vorteile dieses Tools liegt zweifellos in seiner Visualität und Einfachheit. Es bietet einen schnellen Überblick über die eigene Lebenssituation und regt dazu an, die Balance zwischen den verschiedenen Bereichen zu hinterfragen.
Für Menschen, die noch nie strukturiert über ihr Leben nachgedacht haben, kann es ein motivierender Einstieg in die Selbstreflexion sein.
Oft gibt es beim Blick auf ein eher zerzaustes „Rad“ einen ersten Aha-Moment: „Ach, deshalb läuft mein Leben gerade so unrund!“ Doch genau hier endet die Stärke des Rads – und die Schwächen beginnen.
Die Schwächen eines starren Modells
Eine der größten Schwachpunkte im „Rad des Lebens“ ist die Auswahl der Kategorien. Diese sind völlig willkürlich: warum genau acht Bereiche? Warum nicht sieben oder elf?
Und welche Themen sind für die jeweilige Person wirklich entscheidend? Manche Menschen legen Wert auf Kreativität oder Spiritualität, während andere vor allem berufliche Themen priorisieren.
Die vorgegebenen Kategorien werden diesem individuellen Anspruch selten gerecht, hinterlassen das nagende Gefühl, dass vielleicht wichtige Bereiche übersehen werden.
Noch problematischer wird es bei der Bewertung. Was bedeutet es, wenn „Karriere“ bei einer 6 steht? Und wie unterscheidet sich eine 7 in „Freizeit“ von einer 8?
Solche Bewertungen bleiben subjektiv und vage. Sie geben keine echte Hilfestellung, was konkret verbessert werden kann oder wie diese Bereiche miteinander in Verbindung stehen.
So bleibt das Tool eine starre Momentaufnahme, die Einschätzung bleibt unreflektiert – und ohne klaren Bezugspunkt verlieren die Zahlen schnell ihre Aussagekraft. Es fehlt der Tiefgang.
Ein Rezept für Überforderung
Einer der größten Stolpersteine des „Rads des Lebens“ ist der Anspruch, das Leben in allen Bereichen auf Level 10 bringen zu wollen. Es vermittelt die Idee, dass ein „perfektes Rad“ mit gleich langen Speichen das Ziel ist – dass das Leben nur dann rund läuft, wenn alles perfekt ausbalanciert ist.
Doch das Leben funktioniert nicht so. Erstens verschieben sich unsere Prioritäten ständig: Manchmal liegt der Fokus auf der Karriere, dann wieder auf der Gesundheit oder den Beziehungen.
Und zweitens sind die Kategorien in der Realität viel enger miteinander verwoben, als das Lebensrad uns vormachen will: Ein Konflikt im Job kann Beziehungen belasten. Gesundheitliche Probleme können die Freizeitgestaltung einschränken.
Das Rad ignoriert diese Wechselwirkungen und suggeriert stattdessen, dass jeder Bereich separat „repariert“ werden kann. Das dynamische Gleichgewicht unseres Lebens lässt sich nicht in ein starres Modell pressen.
Das Ziel, ein schönes, ausbalanciertes, rundes und möglichst gut gefülltes Lebensrad zu haben, ist nicht nur unrealistisch, sondern auch kontraproduktiv.
Das Leben ist kein Projekt
Das Problem wird verschärft durch die Perfektionsansprüche, die das „Rad des Lebens“ subtil fördert. Es gibt den Eindruck, dass das Leben ein Projekt ist, das sich mit genug Planung und Disziplin abschließen lässt – eine Illusion, die zu Frustration führt. Denn wer von uns kann in jedem Bereich gleichzeitig auf höchstem Niveau funktionieren?
Häufig wird das Lebensrad als Coachingtool auch durch fragwürdige Theorien der Selbstoptimierung ergänzt.
Statt fundierter Ansätze, die wirklich helfen könnten, werden oft banale Ratschläge gegeben: „Setze dir SMARTe Ziele“, „Mach mehr Sport“, „Plane deine Freizeit besser“.
Solche Tipps können kurzfristig inspirierend wirken, doch oft fehlen die Werkzeuge, um langfristige Veränderungen zu bewirken.
Das Ergebnis: Frustration und das Gefühl, dem Ideal eines „perfekten Lebens“ nicht gerecht zu werden, schon wieder zu versagen.
Ikigai: Eine Denkweise, die das Leben feiert
Im Gegensatz dazu steht die japanische Denkweise des Ikigai. Es ist mehr als nur ein Begriff – es ist eine Philosophie, die in ein einziges Wort eine ganze Weltanschauung hineinpackt.
Ikigai beschreibt das, was das Leben lebenswert macht: eine innere Lebenszufriedenheit, die sich aus vielen Quellen speist. Das Zusammenspiel aus Sinn, Resonanz in Beziehungen, Wachstum, Selbstverwirklichung und dem Gefühl, eine gute Zukunft gestalten zu können, erschafft diesen Zustand.
Ikigai ist dynamisch, individuell und schwer in Worte zu fassen – genau deshalb ist es so kraftvoll.
Ikigai ist nicht das Streben nach Perfektion. Es entsteht im Erleben: im Lachen mit einem Freund, im Gefühl, etwas Sinnvolles getan zu haben, oder in der Freude über die kleinen, schönen Momente des Alltags. Es ist keine Checkliste, sondern ein lebendiger Prozess, der sich ständig verändert – und genau das macht es so wertvoll.
Die PERMA-Sonne: Orientierung ohne Druck
Ein modernes Tool, das viele Aspekte von Ikigai aufgreift, ist die PERMA-Sonne.
Sie basiert auf der Positiven Psychologie und misst Wohlbefinden in fünf zentralen Bereichen: Positive Emotionen, Engagement, Beziehungen, Sinn und Zielerreichung.
Wie das „Rad des Lebens“ bietet auch die PERMA-Sonne eine visuelle Momentaufnahme – doch es gibt einen bedeutenden Unterschied: Sie legt keinen Druck auf, perfekt zu sein oder überall Höchstwerte zu erreichen, hier geht es um kleinste Schritte, leichte Übungen für den Alltag und winzige Verbesserungen.
Das Beste daran: alles ist wissenschaftlich in der Wirksamkeit bewiesen.
Die PERMA-Sonne macht sichtbar, wo dein Wohlbefinden als Ganzes gerade steht, und gibt Hinweise darauf, welche Bereiche deiner Aufmerksamkeit bedürfen.
Es geht nicht darum, das ganze Leben auf „Level 10“ zu bringen. Vielmehr hilft dir die PERMA-Sonne, die richtigen Ansatzpunkte zu finden, nämlich deine ganz individuellen Baustellen.
Und dann ist es endlich möglich, mit kleinen, machbaren Schritten zu starten, die sich gut anfühlen und eine positive Aufwärtsspirale anstoßen können.
Reflexion statt Perfektion
Das „Rad des Lebens“ mag auf den ersten Blick nützlich erscheinen, doch es bleibt ein Werkzeug mit deutlichen Schwächen. Es reduziert die Vielschichtigkeit des Lebens auf starre Kategorien, verstärkt unrealistische Perfektionsansprüche und gibt wenig Orientierung, wie man echte Veränderungen bewirken kann.
Tools wie die PERMA-Sonne oder die Philosophie des Ikigai bieten eine freundlichere und ganzheitlichere Perspektive. Sie feiern das Leben in seiner Vielfalt und Dynamik und laden dazu ein, mit Neugier und Leichtigkeit die Dinge anzugehen, die im Moment wirklich wichtig sind.
Das Leben muss nicht perfekt sein, um lebenswert zu sein. Es darf lebendig, chaotisch und unvorhersehbar sein – und gerade deshalb so erfüllend.
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